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  • AutorenbildMichelle Kradel

Schattenkinder & Geschwisterkinder

Beide Begriffe sind merkwürdig! Natürlich sind alle Kinder, die Geschwister haben "Geschwisterkinder" - das ist an dieser Stelle allerdings nicht gemeint. Es geht um Kinder, die geistig und/oder körperlich behinderte oder kranke Geschwister haben und dadurch im Schatten dieser Geschwister leben - daher auch der Begriff "Schattenkinder", welcher leider auch manchmal für Missbrauchsopfer verwendet wird. Das ist an dieser Stelle aber nicht meint! Im Englischen gibt es den Begriff "Supporting Siblings" (also unterstützende Geschwister) den ich deutlich besser finde!

In Deutschland leben "etwa 2,2 Millionen" Jugendliche, die " Bruder oder Schwester eines schwer chronisch kranken oder beeinträchtigten Kindes" sind.* Und obwohl es so viele sind, gibt es kaum Angebote für diese Kinder oder Gruppen in denen sie einfach ihre Erfahrungen austauschen können.


Für den folgenden Text habe ich versucht so viele unterschiedliche Quellen wie möglich zu diesem (bisher noch) selten diskutierten Thema zu finden. Trotzdem wird es mir unmöglich sein neutral darüber zu schreiben, da ich selbst eines dieser "unterstützenden Geschwister" bin.


In welche Situationen können "unterstützende Geschwister" kommen?

Generell müssen sie lernen mit wenig Aufmerksamkeit zurecht zu kommen und müssen dafür viel Verständnis aufbringen. Denn klar ist, dass der Aufmerksamkeitsentzug keine Entscheidung oder sogar Bestrafung ist, sondern einfach der besonderen Situation geschuldet. Eltern müssen sich mehr um das behinderte/ kranke Kind kümmern - es muss zum Arzt, zur Physiotherapie, gewaschen & gefüttert werden. Daher würde ich auch nie meinen Eltern einen Vorwurf machen!

Es kann passieren, dass sich manche Kinder sehr zurückziehen oder andere auch zu den "Hoffnungsträgern" als das "gesunde" Kind werden. Aus meiner persönlichen Sicht kann ich sagen, dass ich nie den Eindruck hatte, dass auf mir ein besonderer Erwartungsdruck lastet, allerdings habe ich früh gelernt mich selbst zu beschäftigen und "mein eigenes Ding" zu machen.


"Die Geschwisterkinder reagieren gewissermaßen mit einem "Schutzreflex" für ihre Eltern. Sie ziehen sich zurück und regeln ihre Angelegenheiten weitgehend selbst. Auf diese Weise werden den Eltern weniger Zeit, Aufmerksamkeit und auch zusätzliche Sorgen abverlangt." schreibt Renate Weber vom Verein "talentino e.V."*

Ich persönlich stelle Menschen in meinem Umfeld auch heute noch gerne vor vollendete Tatsachen. Im Gegensatz zu damals wird das heute manchmal als egoistisch angesehen.

Auf der anderen Seite finde ich es aber auch komisch, wenn ich dann jemanden nach seiner Meinung frage, dass mir mal gesagt wurde "du musst diese Entscheidung selbst treffen". Das mache ich gefühlt mein Leben lang und würde nie eine andere Person darum bitten! Komisch, dass gerade mir das einmal gesagt wurde. Evtl. kannte mich diese Person nicht so gut, wie ich damals dachte. Denn wie das kleine hilflose Mädchen kam ich mir sicher nie vor! Als "Schattenkind" wirkte ich vielleicht damals schüchtern und zurückhaltend, habe aber früh angefangen meine Umwelt zu beobachten und verstanden wie die Welt um mich herum funktionierte.


Aber, es wurde als Kind auch von mir tatsächlich verlangt Verständnis zu haben und keinen Stress zu verursachen! Meine Oma sagte schon früh zu mir:

"Deine Mutter hat doch schon so viele Sorgen mit deinem Bruder, jetzt mach Du ihr nicht auch noch welche"!

Meine Rolle in der Familie war klar: sei ruhig und lieb!

Das habe ich gemacht... und wurde zu einem wahnsinnig schüchternen und introvertierten Kind (heute kaum noch vorstellbar). Dabei war die Rollenverteilung zwischen meinem Bruder und mir am Anfang gar nicht so anders, wie bei "normalen" Geschwistern - das denke ich zumindest.

Manchmal war die junge Version von mir eben auch nur "die kleine Schwester". Mein Bruder ist blind und sitzt im Rollstuhl. Das macht es extrem leicht ihn zu erschrecken, denn er sieht ja nichts.

Dafür hört er aber wahnsinnig gut. Was zur Folge hat, dass ich mich extrem leise anschleichen kann! Ich weiß... das ist "gemein" und "das darf man nicht", aber er hat gelacht und fand es genau so witzig wie ich! Es war unser Spiel. Denn als wir klein waren, waren wir manchmal auch nur Geschwister, die sich halt gegenseitig geärgert haben.


Eigentlich einfach: wenn er mich geärgert hat, habe ich ihn auch geärgert.

Problem an der Sache: obwohl ich 5 Jahre jünger bin als er, habe ich den Ärger bekommen und nicht er! Denn auch die kleine Michelle sollte ja schon Verständnis für ihren Bruder haben. Also lass dich ärgern und sei ruhig!


"Sei froh, dass Du laufen und sehen kannst!"

Sollten wir darüber nicht alle froh sein?! Warum soll ich dafür dankbarer sein alles alle anderen?

Diesen Satz sagte tatsächlich mal meine Tante zu mir, als ich noch jung war. Ich war ca. 11 oder 12 Jahre alt. Ich hatte meine ersten typischen 1-Welt-Mädchen-Teenie-Problemchen mit Pickeln im Gesicht, alle Klamotten waren uncool, was denken die Anderen von mir, usw. Ich hatte die gleichen Probleme wie meine Freundinnen, allerdings war für meine Probleme oftmals nicht viel Zeit. Verständlicherweise! Erneut: Ich würde nie meinen Eltern dazu einen Vorwurf machen!


Aber meiner Tante, die das oben genannte Zitat der 11-jährigen Michelle entgegen warf, würde ich heute wohl etwas nicht so nettes erwidern. Damals konnte ich das, verständlicherweise, noch nicht so verarbeiten wie heute und nicht in den passenden Kontext setzen. Und genau das wäre mein Vorwurf heute! Wie kann man sowas einem Kind/ Teenie sagen?! Es war sicher nicht böse gemeint, aber überhaupt nicht zielführend. Es war ein "sei ruhig" mit besonderem Nachdruck, das Schuldgefühle weckte.


Was hatte das zur Folge?

Erstaunlicherweise (Ironie!) habe ich heute keine besonders enge Beziehung zu meiner Tante und der Seite der Familie. Wahrscheinlich werde ich als "anders" wahrgenommen. Irgendwie bin ich es ja auch. Heute wundern sich plötzlich alle, dass ich so wenig sage oder von mir erzähle. Dabei war es doch genau das, was sie früher alle wollten! Gut, hinzu kommt, dass ich als erste in meiner Familie studiert und einen ganz anderen Lebensweg eingeschlagen habe, aber anstatt stolz oder wenigstens froh für mich zu sein, habe ich mich damit unabsichtlich sehr weit von meiner Familie entfernt.


Die "rebellische" Zeit

Denn als Teenie kam dann zum Glück auch bei mir die "rebellische" Phase. Zum Teil ganz klassisch, wie bei allen anderen 16-Jährigen auch. Und zum Teil versuchte ich mich dann aus der "Rolle" zu lösen. Außerhalb meiner Familie habe ich das tatsächlich geschafft. Da kam es dann zugute, dass ich es ja gewohnt war "mein eigenes Ding" zu machen. Also beschloss ich irgendwann nach meiner Ausbildung noch zu studieren (was nicht gut an kam - aber das ist ein anderes Thema!), ins Ausland zu gehen und schließlich doch noch ein extrovertierter Mensch zu werden. Heute habe ich kein Problem damit vor Menschen zu sprechen, auf einer Bühne zu stehen oder eine Show für Kamera oder Radio zu machen. Und obwohl ich inzwischen (endlich!) selbstbewusst bin und die Sprüche von damals einordnen kann, verfalle ich innerhalb der Familie wieder in meine "alte Rolle". Vielleicht, weil ich das Gefühl habe, dass die "echte" Michelle dort nicht erwünscht wäre? Oder vielleicht bis heute um meiner Mutter (ungefragt) den Gefallen zu tun und "keinen Stress zu verursachen" - denn das würde ich wahrscheinlich, wenn ich ab und zu meine Meinung einbringen würde. Und das ist wahrscheinlich das merkwürdigste Gefühl, schon als Kind das Gefühl zu haben die eigenen Eltern "schützen" zu müssen.


Die Beziehung heute zu meinem Bruder

Er lebt in einer behinderten Einrichtung, die wirklich toll ist. Dort wird er auf eine Art betreut, wie man es selbst zu Hause überhaupt nicht leisten kann. Gerade weil er ja blind ist, ist es wichtig und schön für ihn ständig Stimmen und Geräusche um ihn herum zu haben.

Neben meiner Mutter bin ich seine Betreuerin. Da er selbst keine Entscheidungen treffen kann, muss das entsprechend ein Vormund für ihn machen. Ich habe mit dieser Rolle und der Aufgabe Verantwortung für meinen älteren Bruder zu übernehmen kein Problem, aber vielleicht auch, weil es nie wirklich anders war.


Inklusion und Integration

Inklusion bedeutet in der Pädagogik die "gemeinsame Erziehung beeinträchtigter und nicht beeinträchtigter Kinder in Kindergärten und [Regel]schulen"*

Die Integration geht hingegen in der Soziologie davon aus, dass es nicht zwei Gruppen gibt, sondern eine große Einheit gebildet werden soll: "Verbindung einer Vielheit von einzelnen Personen oder Gruppen zu einer gesellschaftlichen und kulturellen Einheit".*


Ich verstehe, dass behinderte Kinder besondere Zuwendung brauchen, trotzdem würde ich mit der "Inklusion" schon in der KiTa anfangen. In jeder KiTa sollten behinderte und nicht-behinderte Kinder miteinander spielen und zusammen aufwachsen. Nur in dem Alter macht man sich noch keine Gedanken, wie später Erwachsene. Kinder spielen einfach zusammen und lernen beim gemeinschaftlichen Auswachsen selbstverständlich miteinander umzugehen.


Deutschland ist ein erste Welt-Land und es sollte das Bestreben unserer Gesellschaft sein auch beeinträchtigten Menschen das Leben so selbstbestimmt wie möglich zu machen. Rollstuhlfahrer oder Blinde haben es auch heute noch erheblich schwerer alltägliche Aufgaben zu meistern und sind auf viel Hilfe angewiesen.


Integration bedeutet für mich aber auch, dass man nicht jeden behinderten Menschen nett finden muss. So wie man mit manchen nicht-behinderten Menschen mal besser und mal schlechter zurecht kommt, ist es ja bei behinderten Menschen auch. Trotzdem fühlt es sich wie ein Tabuthema an offen zu sagen, dass mich mein behinderter Bruder manchmal ganz schön nervt! Oder ich sogar eifersüchtig bin (mit fast 30), wenn das komplette Weihnachtsfest nach ihm ausgerichtet wird, obwohl er nicht mal erfassen kann, was Weihnachten überhaupt ist.


 

Quellen

*Text von Renate Weber vom Verein "talentino e.V." https://www.maik-online.org/fileadmin/dl/schattenkinder_brauchen_aufmerksamkeit.pdf 11.09.2020

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